Wenn wir Alpenkinder an Snowboarden denken, träumen wir von tiefem Pulverschnee, verschneiten Bergpanoramen, Hightech-Liftanlagen, perfekt präparierten Pisten und frisch geshapten Snowparks. Wir denken an tiefblauen Himmel und Sonnencreme oder an Abfahrten durch märchenhaft verschneite Wälder. Wir sparen unser Geld auf Tages- und Saisonkarten hin und uns graut vor den Wucherpreisen auf den Berghütten und vor langen Liftschlangen. Wer im Winter in Richtung Island zum Snowboarden aufbrechen möchte, wird feststellen, dass Snowboarden nicht gleich Snowboarden ist. Ein Erfahrungsbericht aus der rauen Dunkelheit des isländischen Winters mit wärmender Herzlichkeit.
Snowboarden in Island
Wer einen Snowboard-Trip nach Island planen möchte, wird auch dort eine Handvoll Schlepplifte vorfinden. Aber die Chancen auf blauen Himmel, Sonnenschein und weichen Schnee stehen schlecht. Und zum Schutze des Gesichtes sollte man lieber eine Gesichtsmaske als Sonnencreme einpacken, denn es herrscht klirrende Kälte und fiese, teils waagrecht fliegende Geschosse aus Regen, Graupel oder Schnee, die der scharfe Wind über das Eiland fegt, können einem übel zusetzen. Von einem Moment zum anderen kann es passieren, dass weite Teile des Landes unter einem Blitzeis-Panzer begraben werden und man ohne Allradantrieb und aufgezogene Ketten verloren ist. Spärliches Tageslicht vervollständigt die rohen Naturgewalten und wirft die Frage auf, wie sich in dieser menschenfeindlichen Umgebung überhaupt eine Zivilisation entfalten konnte.
In Island bestimmt das Wetter das Leben der Menschen. Absolut unberechenbares Inselwetter kann vor allem während der Wintermonate lebensbedrohend sein, wenn sich ein Ortsunkundiger auf dem falschen Fuß erwischen lässt. Dass ein Schneesturm ohne Vorankündigung aus dem Nichts auftaucht ist alltäglich, und selbiger legt nicht selten die komplette Verkehrsinfrastruktur lahm. Nicht selten rät der Nachrichtensprecher im Fernsehen dazu, die Häuser am besten überhaupt nicht mehr zu verlassen.
Dass sich dieses Klima auf die Einheimischen auswirkt, liegt auf der Hand. Der Isländer wirkt rau und sein Gemüt scheint vom gnadenlosen und nicht enden wollenden Winter geformt zu sein. Doch sobald sich der kurze Sommer ankündigt, erwachen nicht nur Flora und Fauna, sondern auch die Inselbewohner. Es wird gefeiert und das Leben in vollen Zügen zelebriert, um Energie, Sonne und Freiheit für den sich schon wieder nähernden nächsten strengen Winter zu tanken.
Dieses Leben der Extreme spiegelt sich im Alltagsleben der Isländer wider und in unserem Fall kommt dies bei den heimischen Snowboardern sehr offensichtlich zum Vorschein. Halldor Helgason darf als Paradebeispiel gelten, seine Einstellung zum Leben, ob auf dem Brett oder an der Bar, kennt nur ein ganz oder gar nicht. Und ob man nun seinen Bruder Eiki oder den dritten im Bunde der Crew aus Akureyri, Gulli Gudmundsson, als Beispiel aufführt, es ergibt sich dasselbe Bild. Auch die legendäre Crew „Barf Bags“ aus Reykjavik ist stürmisch und unberechenbar, eben genau wie die Winde, die über das Land fegen. Denn Snowboarden ist genauso rau und unbarmherzig wie alles andere hier oben.
Reykjavik – Heimat der Helgasons
Es spielt sich in den Straßen der Hauptstadt Reykjavik oder in Akureyri ab, dem Heimatort der Helgasons im Norden der Insel. Anstelle von weichem Pulverschnee gibt es Metallgeländer und Ledges aus Beton. Diesen werden während der drei Stunden Tageslicht unter Schwersteinsatz von Schweiß, blutigen Schürfwunden und immer wieder auch unter Tränen, ein oder zwei Tricks abgekämpft. Und wenn die lange Nacht hereinbricht, wird per Generator und Lampen der Dunkelheit getrotzt, um in der klirrenden Kälte noch ein zwei weitere Tricks machen zu können.
Am nächsten Morgen klingelt der Wecker, wenn die Stadt noch in der Dunkelheit schlummert, denn der nächste Spot muss bei Anbruch des Morgengrauens einsatzbereit sein. Wenn man eine Woche Snowboarden in den Straßen Islands überstanden hat, wenn der Körper ausgelaugt und müde ist, wenn alle Glieder schmerzen und sich jeder normale Mensch nach Entspannung, Ruhe oder Wellness sehnt, werden in Island die gestandenen Tricks der vergangen Woche an der Bar nochmals „gelandet” – und dieses Ritual dauert traditionell so lange, bis auch der Letzte nicht mehr in der Senkrechten aus der Bar kommt.
All den Extremen zum Trotz, verstecken sich unter dem rauen Fell der Isländer die hilfsbereitesten und herzlichsten Menschen. In Reykjavik kann es durchaus passieren, dass euch ein großer, tätowierter Mann mit Vollbart aus dem Nichts euer Parkticket bezahlt, weil ja bald Weihnachten ist und man Gutes tun soll. Vielleicht lädt euch auch eine wildfremde Frau zum Tee in ihr Haus ein, denn ihr friert ja bestimmt da draußen! Oder der Baggerfahrer in Akureyri hilft euch mit seiner Maschine beim Bau einer Landung, weil das ja viel schneller geht, als wenn ihr das mit euren Schaufeln bauen müsst.
Hilfsbereitschaft und Gelassenheit in Island
Auf Island muss man auch einem Fremden in jeder Situation aushelfen, denn im nächsten Augenblick könnte man schon selber derjenige sein, der auf Hilfe angewiesen ist. Es ist genau diese Mentalität, die das Land im Zuge des Bankenkollapses wieder auf die Füße brachte und Island vor einem Staatsbankrott bewahrte. Die Bevölkerung blieb gelassen und nahm die Einschränkung der verordneten Sparmaßnahmen in Kauf. Geld ist relativ im Angesicht der Natur, und hier im hohen Norden steht die Natur über allem. Dieses Aufeinandertreffen der Extreme kann bedrohlich wirken, es ist aber in erster Linie faszinierend und aufregend. Es ist inspirierend zu beobachten, wie die Isländer sich in echter Wikingermanier allen widrigen Umständen stellen, beim Snowboarden wie im alltäglichen Leben und dabei ihre gute Laune bewahren.
“Beim Street-Snowboarden brauchen die Fahrer oft viele Versuche, um einen Trick zu stehen. Ich liebe das, da es mir als Fotograf die Möglichkeit gibt, neue Winkel und Konzepte auszuprobieren, nachdem das erste gute Foto im Kasten ist.”
Wer also auf ein Abenteuer der anderen Art aus ist, dem kann man die Insel im Nordatlantik nur ans Herz legen. Ihr werdet hier keine Tiefschneehänge bei Sonnenschein vorfinden, dafür aber mit offenen Armen und viel Herzlichkeit im langen dunklen Winter Islands empfangen.